Forscher der britischen Universität Sheffield konnten anhand der Nutzung von Kampagnen-Hashtags im Vorfeld des Referendums 41 443 Befürworter und 41 445 Gegner des britischen EU-Austritts identifizieren. Anschließend analysierten sie die Themen, über die diese Nutzer im Zusammenhang mit dem Brexit von Juni bis November twitterten (z. B. #VoteToLeave, #SaferIn).
Um jedoch größtmögliche Genauigkeit zu erreichen, wurde von den Forschern bei Tweets, die mehrere Hashtags zum EU-Austritt bzw. -Verbleib enthalten, nur das zuletzt verwendete Hashtag als dasjenige betrachtet, das die beabsichtigte Haltung des Verfassers anzeigt (pro EU-Austritt oder pro EU-Verbleib). Ebenso filterten sie alle Nutzer heraus, die weniger als drei Tweets mit ihrer Haltung gepostet hatten. Dadurch erhielten sie eine zuverlässigere Stichprobe der Leave- und Remain-Unterstützer auf Twitter.
Um die Tweets nach Themen aufzuschlüsseln, verwendeten die Forscher die von der britischen Regierung angegebenen hochrangigen „Politikbereiche“, wie beispielsweise Gesundheitswesen, Einwanderung und Gesetzgebung. Jedem dieser Themen wurde eine Reihe von Schlüsselwörtern zugeordnet (dem Gesundheitswesen beispielsweise die englischen Begriffe „NHS“, „nursing“ und „doctors“), die Parteiprogrammen und Tweets zur Wahl in Großbritannien automatisch entnommen und anschließend manuell überarbeitet und erweitert wurden. Dies wurde noch durch einen traditionelleren Suchansatz ergänzt, um Statistiken zu populären Brexit-spezifischen Themen (z. B. Artikel 50) zu erfassen.
Lektionen von Twitter
Die Analyse zeigte, dass die Wähler im Vorfeld des Referendums doppelt so viele Tweets zu den Themen Grenzen und Einwanderung gepostet hatten wie beispielsweise zu den Themen Souveränität, Beschäftigung, Justizsystem oder Nationales Gesundheitswesen (NHS). Obwohl das Thema Gesetzgebung und Justiz deutlich hinter dem Thema der Einwanderung lag, stellte es für die Befürworter des EU-Austritts immer noch ein wichtiges Thema dar, denn sie posteten dazu viermal so viele Tweets wie die Austrittsgegner.
Eine weitere interessante Erkenntnis aus der Forschungsarbeit war, dass es, obwohl Twitter häufig eher als liberaler Hallraum angesehen wird, die Unterstützer des Austritts waren, die im Monat vor dem Referendum am emsigsten twitterten, wobei Einwanderung und Wirtschaft die aktivsten Themen darstellten. Nach dem Referendum twitterten hingegen die Austrittsgegner deutlich aktiver zu sämtlichen Themen und schlossen damit zu den Befürwortern auf. Jedoch fand auf Twitter kaum eine Diskussion statt, da nur 7 % der Tweets Antworten und mehr als 58 % Retweets waren, obwohl man feststellen konnte, dass Austrittsbefürworter sich mehr Mühe gegeben hatten, ihre Ansichten zu verbreiten.
Besonders in der letzten Woche der Referendumskampagne wurde der Abstand bezüglich der Anzahl der Tweets zwischen Austrittsbefürwortern und -gegnern besonders deutlich, da es einen enormen Anstieg bei den Tweets der Austrittsbefürworter gab. Dies fiel zeitlich mit der Veröffentlichung eines nunmehr berüchtigten Plakats von Leave.eu (die nicht die offizielle Leave-Kampagne darstellte) zusammen, das eine Schlange von Flüchtlingen zeigte. Das Plakat vermittelte den Eindruck, dass die dargestellten Personen auf dem Weg in das Vereinigte Königreich wären, obwohl das Foto tatsächlich an der Grenze zwischen Kroatien und Slowenien aufgenommen wurde.
„Die zentrale Herausforderung und der Nutzen dieser Arbeit besteht darin, Erkenntnisse in Echtzeit zu gewinnen“, bemerkte die leitende Forscherin der Studie Kalina Bontcheva. „Das bedeutet, dass man stets über topaktuelle Themen, Teilnehmer und Meinungen auf dem Laufenden ist und Veränderungen, die sich dabei im Lauf der Zeit ergeben, untersuchen kann.“
Während die Forscher zurückhaltend sind und nicht die Ansicht vertreten, dass allein anhand von Twitter und anderen sozialen Medien die komplexen Gründe beleuchtet werden könnten, die hinter einigen der überraschendsten politischen Ereignisse des Jahres 2016 stehen – wie zum Beispiel der Entscheidung der Briten für einen Brexit – so heben sie doch hervor, dass die sozialen Medien eine Untersuchung der unmittelbaren Reaktion der Öffentlichkeit auf aktuelle Ereignisse in Echtzeit ermöglichen. Somit werden dadurch traditionelle Umfragen ergänzt, welche in Bezug auf richtige Prognosen in diesem politisch turbulenten Jahr weniger überzeugen konnten.
Weitere Informationen:
PHEME-ProjektwebsiteSOBIGDATA-Projektwebsite