Dr. Michele Gazzola, der am EU-geförderten Projekt LAPO (Language Policy and Linguistic Justice in the European Union) beteiligt war, argumentierte, dass eine Verminderung der offiziellen EU-Sprachen abzulehnen sei, da dies aus sozialer Sicht problematisch sei und viele Millionen europäische Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihrer Sprachkenntnisse ausschließe.
Von 24 zu einer (oder drei)?
Die Studie reagierte auf eine in den letzten Jahren immer stärker vertretene Argumentation, dass die EU die Rolle des Englischen als vorherrschende Sprache des Kontinents anerkennen sollte. Wobei sich die radikalsten Kommentatoren dafür aussprechen, dass Englisch (wahrscheinlich unabhängig vom jüngsten Brexit-Votum) die einzige Amtssprache der EU werden solle. Dagegen argumentierten weniger radikale Beobachter für eine dreisprachige Politik auf der Basis von Englisch, Französisch und Deutsch.
Mithilfe von Daten, die Eurostat in 25 EU-Mitgliedstaaten bei fast 170 000 Bürgern in Sachen Sprachkenntnisse erhoben hat, zeigte die Studie, dass, falls Englisch einzige Amtssprache der EU werden sollte, 45 % ihrer Einwohner keinen Zugang mehr zu Rechtsdokumenten, Internetseiten der EU-Institutionen und im Europäischen Parlament stattfindenden gestreamten Debatten haben werden, da sie kein Englisch verstehen. Sie würden sprachlich ausgeschlossen, was als eine Art politischer Entmündigung betrachtet werden könnte.
Wenn man sich zudem die EU-Bürgerinnen und Bürger anschaut, die weder englische Muttersprachler sind noch das Englische fließend beherrschen, dann steigt der Anteil der Bürger, die Schwierigkeiten beim Verständnis von politischen und rechtlichen EU-Dokumenten haben würden, bereits auf 79 %. Das sind vier von fünf Europäern. Somit ist in Europa die Beherrschung des Englischen im Gegensatz zur allgemeinen Annahme nicht einmal unter den jüngeren Erwachsenen als eine Grundfertigkeit zu betrachten.
Mehr als 30 % der Befragten im Alter von 25 bis 34 Jahren besitzen keine englischen Sprachkenntnisse, was zugegebenermaßen unter dem Durchschnitt von 45 % liegt, jedoch sprechen 74 % der Befragen in dieser Altersgruppe Englisch nicht als Muttersprache oder fließend. Das entspricht fast dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung bei 79 %. Im Wesentlichen weisen diese Prozentzahlen darauf hin, dass junge Menschen eher Fremdsprachen sprechen als die älteren Generationen, was jedoch nicht bedeutet, dass sie sie besser beherrschen.
Obgleich wohl weniger drastisch, wäre auch eine EU-Sprachenpolitik auf Basis von Englisch, Französisch und Deutsch höchst ausschließend, da sie je nach verwendeten Indikator 26 % bis 49 % der Bürgerinnen und Bürger entmündigen würde, und diese Anteile dürften sich nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU noch drastisch erhöhen.
Erhaltung der Mehrsprachigkeit
Dagegen argumentiert die Studie, dass Mehrsprachigkeit nicht nur die wirksamste Strategie sei, um Informationen über die EU an ihre Bürgerschaft zu übermitteln, sondern sie auch die einzig aufrichtige Inklusionspolitik sei. Da sie nur 1 % des EU-Haushalts betrifft, wäre sie auch eine kosteneffektive Politik. Eine Senkung der Zahl der Amtssprachen der EU hätte auch rückläufige Auswirkungen, insbesondere bei den weniger gebildeten EU-Bürgerinnen und Bürgern (17 % der Befragten mit einem Hochschulabschluss besaßen keine Englischkenntnisse im Vergleich zu 47 % der Befragten mit einem Sekundarschulabschluss). Daher würde eine Schrumpfung bei den EU-Amtssprachen die ärmsten Europäer treffen, da die EU-Bewohner mit höherem Einkommen eher als jene in den niedrigeren Lohngruppen zusätzliche Sprachen sprechen.
Angesichts der europaskeptischen Bewegungen und Parteien, die in ganz Europa immer stärker an Boden gewinnen, war es vielleicht noch nie zuvor so dringend für die EU, sicherzustellen, dass sie mit all ihren Bürgerinnen und Bürgern in wirksamer Weise in ihrer jeweiligen Muttersprache kommunizieren kann. Um das zu erreichen, muss es eine klare politische Unterstützung für eine inklusive Sprachenpolitik geben, deren höchste Priorität die Förderung der Mehrsprachigkeit ist.
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