Wird "öffentliches Gut" länderspezifisch unterschiedlich bewertet?

Im 20. Jahrhundert unterscheiden sich die Erfahrungen der Menschen in den postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas gänzlich von den in westeuropäischen Staaten gemachten Erfahrungen. Hat dies eine unterschiedliche Wahrnehmung des öffentlichen Raums und "öffentlicher Güter" wie Gesundheitswesen, Bildungswesen und Umwelt gefördert? Dr. Natalia Letki von der Universität Warschau in Polen untersucht mit einem ERC- Förderpreis für Nachwuchsforscher in einer ehrgeizigen fachübergreifenden Studie Wahrnehmung und Verhalten gegenüber "öffentlichem Gut" in der gesamten Region und integriert Fachbereiche wie Politikwissenschaften, Soziologie, Ökonomie und sogar Psychologie.

"Unsere umfangreiche öffentliche Erhebung ist die wahrscheinlich größte und detaillierteste länderübergreifende Studie, die bisher in mittel- und osteuropäischen Ländern anberaumt wurde", so Dr. Letki über ihr PGPE-Projekt. "Wir führen Feldstudien in 14 postkommunistischen Ländern durch: in 11 EU-Mitgliedstaaten – Bulgarien, Tschechischer Republik, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakischer Republik und Slowenien sowie in drei Nicht-EU-Staaten –Moldauischer Republik, Serbien und Ukraine."

Dr. Letki, Dozentin am Institut für Soziologie der Universität Warschau, hofft, dass dieses Projekt zeigen wird, auf welche Weise Bürger und Regierungen in diesen Reformländern gemeinsam auf eine stärkere soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit hinarbeiten können.

Alles umsonst – die große Versuchung

"Wenn es um Güter geht, bei denen die Menschen einbezogen werden müssen, etwa Verteidigungswesen oder Zugang zum Bildungssystem – besteht eine Tendenz, selbst nicht aktiv zu werden", erklärt sie. "Das Erbe des Kommunismus, wo der Staat den Menschen bewusst Entscheidungen vorenthielt, verstärkte die Verweigerungshaltung und die Abneigung, miteinander zu kooperieren. Die Studie dokumentiert Erfahrungen und Wahrnehmungen im Hinblick auf öffentliches Gut und untersucht hierfür das Verhalten in öffentlichen Einrichtungen und Organisationen sowie Mitbürgern gegenüber. Analysiert werden soll auch, wie ökologische Fragestellungen bewertet werden, und ob es "nachhaltiges Verhalten" gegenüber so genannten "gemeinsamen Ressourcen" gibt, etwa der Umwelt."

Andere Erfahrungen – andere Einstellungen

"Wir gehen davon aus, dass die Menschen in Osteuropa anders denken", wie sie erklärt. "Der Abbau des Sozialstaates in Westeuropa verlief allmählich – in Osteuropa jedoch waren die Veränderungen 1990 radikal und abrupt: die staatliche Unterstützung brach von einem Moment auf den anderen weg."

"Viele Menschen fühlen sich vom Staat ungerecht behandelt und verweigern daher weiteres Engagement. Makroökonomische Probleme sind nur schwer zu lösen, wir wissen aber bereits, dass die Menschen stärker darauf achten, wie sie in den Behörden, mit denen sie täglich zu tun haben, behandelt werden, als auf die Leistungen, die sie tatsächlich bekommen", führt sie weiter aus. "Und auch wenn Bürger miteinander in Kontakt treten, ist die Qualität des Austauschs wichtig – dabei geht es nicht nur darum, dass eine Hand die andere wäscht, sondern um Gemeinschaftssinn und gemeinsame Ziele."

Beispielsweise "haben wir aus westlicher Sicht viel Energie auf eine behutsame Formulierung komplexer Fragestellungen zu brisanten Themen und Verhaltensweisen aufgewandt, etwa, wenn es um Steuerhinterziehung geht. Erste Ergebnisse legen nahe, dass in Osteuropa offen und direkt Fragen gestellt werden, und dass die Leute darauf antworten – ein Zeichen dafür, dass in postkommunistischen Ländern dieses Verhalten nicht als Affront gegenüber Mitbürgern gesehen wird." Das Projekt gleicht diese subjektiven Maßstäbe mit strukturellen Indikatoren ab – darunter institutionelle Konzepte, gesellschaftliche Veränderungen, politische und ökonomische Reformen wie auch historisches Erbe – um die Einstellung gegenüber Besteuerung oder Gesetzestreue zu verstehen.

"An unserem Projekt arbeitet ein interdisziplinäres internationales Beratergremium mit, das uns hilft, unterschiedliche (oder ähnliche) Erklärungen aus verschiedenen Fachrichtungen wie Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaften und Psychologie zusammenzutragen", so Dr. Letki.

"Der ERC Grant eröffnet fantastische Möglichkeiten", fügt sie hinzu, "denn wir brauchen solche großzügigen Fördermittel für umfassende Studien dieser Art. In unserem Fall werden wir 1.500 Menschen in allen 14 beteiligten Ländern befragen. Die aufschlussreiche Datenreihe wird zeigen, wie sich qualitative Unterschiede in sozialen Einrichtungen auswirken."

Der Förderpreis ermöglichte Dr. Letki, für das Projekt Meinungsforschungsinstitute zu engagieren und zwei Postdoktoranden und zwei Forschungsassistenten ins Team zu holen. Obwohl das Projekt in den anderen Ländern erst angelaufen ist, sind die Feldstudien in Polen fast abgeschlossen.

"Das ist bislang das faszinierendste Projektvorhaben für mich", sagt sie. "Ich bin der erste Sozialwissenschaftler in Polen, dem ein ERC Grant zuerkannt wurde, und die Universität hat mich bei meinen Aktivitäten sehr unterstützt. Für Nachwuchsforscher am Beginn ihrer Laufbahn ist dies eine einmalige Chance, sich zu profilieren."
- Quelle: Dr. Natalia Letki
- Projektkoordinator: Institute of Sociology (IS), University of Warsaw, Poland
- Projekttitel: Public goods through private eyes. Exploring citizens’ attitudes to public goods and the state in Central Eastern Europe’
- Projektakronym: PGPE
- Website der Universität Warschau
- RP7 Finanzierungsprogramm (ERC-Aufforderung): Starting Grant 2009
- Finanzierung durch die EK: 1 750 000 EUR

- Projektdauer: 3 Jahre

veröffentlicht: 2015-01-20
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