Im Kern des Projekts BLINDPAD (Personal Assistive Device for BLIND and visually impaired people) stand eine einzige Frage: Wie können grafische Inhalte durch Berührungen erfasst werden? Aktuelle Technologien arbeiten hauptsächlich mit visuellen Benutzerschnittstellen und grafischen Informationen, wohingegen der Tastsinn kaum angesprochen wird. Daher war es noch nie so wichtig, taktile Technologien einzuführen, um Menschen mit Sehbehinderung besser in unsere moderne Gesellschaft einzubinden.
Wie es Dr. Luca Brayda, ein Forscher an der Fakultät „Robotics, Brain and Cognitive Sciences“ des Italian Institute of Technology erklärt, soll das BlindPAD zu einer Art Brailleschrift für digitale grafische Information und Kommunikation werden.
Worin bestehen bei der aktuellen Technologie und deren Berücksichtigung (oder vielmehr Vernachlässigung) des Tastsinns die größten Probleme?
Blinde Menschen müssen Informationen mithilfe ihres ihnen verbliebenen Tastsinns erfassen – dies ist bei Grafiken allerdings noch überhaupt nicht möglich. Um Abhilfe zu schaffen, müssten wir ein taktiles Tablet für Blinde Menschen herstellen, was schon seit Jahrzehnten eine Herausforderung darstellt. Dies entspricht dem Konzept der „sensorischen Substitution“: Ähnlich wie mit Pixeln kann ein digitales Bild durch ein Raster kleiner taktiler Stifte („Taxeln“) dargestellt werden, die je nach Programmierung nach oben oder unten geschoben werden und so ein flaches Relief bilden, das mit den Händen ertastet und interpretiert werden kann.
Es ist jedoch eine große technologische Herausforderung, ein dichtes Raster aus Taxeln herzustellen, die mit ausreichend Kraft weit genug verschoben werden können, sodass jeder Benutzer die dargestellten Informationen ertasten kann, und das dennoch energieeffizient, schnell und kompakt ist. Aufgrund der Komplexität der Leistungselektronik oder der mangelnden Leistung der Aktoren erwies sich keine der früheren technologischen Lösungen als skalierbar, ausreichend leistungsfähig und tragbar.
Warum verspricht das BlindPAD in dieser Hinsicht einen Durchbruch?
Das BlindPAD wurde bereits erfolgreich hergestellt und praktisch getestet. Es ist ein System, das sich aus einem neuen taktilen Tablet sowie einer Software, die Bilder in ertastbare Darstellungen überträgt, und einer Reihe von Übungen zusammensetzt, die gemeinsam blinden und sehbehinderten Menschen digitale grafische Informationen zugänglich macht.
Wir stellten sicher, dass das System insbesondere für Kinder im Entwicklungsalter von Nutzen ist. Unsere Ergebnisse bringen viele verschiedene Forschungsgebiete voran. Erstens die Werkstofftechnik – wir haben gezeigt, dass Anordnungen kleiner Elemente möglich sind, die mit kleinen Komponenten relativ große Kräfte aufwenden können. Zweitens die experimentelle Psychologie und kognitive Neurowissenschaft, in denen die potenziellen Fähigkeiten von Menschen mit sensorischen Behinderungen noch untersucht und in einem gewissen Maß unterschätzt oder zumindest nicht ausgeschöpft werden.
Das ist allerdings noch nicht alles. Durch das Projekt wurde auch das Gebiet der Mensch-Computer-Interaktion vorangebracht, nachdem das taktile Feedback auf nicht flachen Bildschirmen noch vor dem BlindPAD Beachtung fand, jedoch zu sehr wenigen Lösungen führte, die über wissenschaftliche Versuchsgeräte hinausgingen. Im Allgemeinen wurde das Feld der computergestützten Rehabilitation gefördert, in dem es noch keine Standards gibt. Der Zugang zu digitalen Informationen könnte einen Meilenstein auf dem Weg darstellen, Rehabilitationspraktiken teilweise zu automatisieren.
Können Sie mehr über das BlindPAD und seine Funktionsweise erzählen?
Unser taktiles Display ist 12 cm x 15 cm groß und besteht aus 192 elektromagnetischen, voneinander unabhängigen Taxeln. Jedes Taxel kann sehr schnell nach unten oder oben verschoben werden, sodass sowohl statische als auch bewegliche Muster dargestellt werden können.
Zusammen können die Taxel jede erdenkliche einfache Grafik darstellen: Kurven, Symbole, Emoticons oder herkömmliche Zeichen. Normale visuelle Inhalte können somit sowohl visuell als auch haptisch vermittelt werden.
Welche Anwendungsfälle möchten Sie mit Ihren Serious Games untersuchen, und warum?
Wir haben uns mit den zwei wichtigsten Anwendungsfällen beschäftigt: das Erlernen von Mathematik und das Lesen von Karten, um mehr über unbekannte Umgebungen zu erfahren. Wir konnten nachweisen, dass mit dem BlindPAD erfolgreich das räumlich-visuelle Arbeitsgedächtnis, komplexe mentale Vorgänge und mathematische Konzepte trainiert werden und dass es dabei unterstützt, sich anhand einer Karte unbekannte Bereiche vorzustellen, sodass Menschen ihre eigene Position in einer echten Umgebung leichter feststellen können.
Wir glauben, dass das Erlernen von Mathematik im Entwicklungsalter von entscheidender Bedeutung ist. Geringes Wissen über wissenschaftliche Themen wirkt sich negativ auf Kompetenzen wie das Ziehen logischer Schlüsse und das räumliche Vorstellungsvermögen aus. Eine noch größere Herausforderung ist die Mobilität, da taktile Karten an öffentlichen Orten selten zu finden sind und häufig zu kompliziert aufgebaut, kostenintensiv und manchmal schwer erreichbar sind. Ein Instrument, das Karten dynamisch darstellten kann, sogar ähnlich wie etwa Google Maps, gibt es bislang nicht, und blinde Menschen sind so von den technischen Errungenschaften, die unsere modere Gesellschaft prägen, ausgeschlossen.
Aus diesen Gründen besuchen auch beinahe keine Blinden naturwissenschaftlich orientierte weiterführende Schulen. Es ist jedoch bekannt, dass blinde Menschen ein sehr genaues räumliches Vorstellungsvermögen entwickeln können. Das Problem besteht nicht darin, solche Kompetenzen zu erlangen, sondern eher darin, auf entsprechende Informationen zuzugreifen.
Konnten die Ergebnisse die gesetzten Erwartungen erfüllen?
Ja. Wir wollten das räumliche Wissen mit dem BlindPAD fördern, und unsere Versuche bestätigen unseren Erfolg. Die Auflösung kann zwar noch erhöht werden, viele räumliche Aufgaben können mit den knapp 200 Taxeln allerdings schon erfüllt werden. Der aktuelle Prototyp kann bereits zur Rehabilitation eingesetzt werden.
Was können Sie uns über Ihre kommerzielle Strategie sagen? Wann soll das BlindPad auf dem Markt erhältlich sein?
Das BlindPAD wurde innerhalb von drei Jahren von Grund auf entwickelt. Es enthält inzwischen taktile Hardware, mit den meisten PCs und Tablets kompatible Software und eine Reihe von Übungen, welche die Fähigkeiten fördern, die mit dem räumlichen Arbeitsgedächtnis, der räumlichen Verarbeitung, der Logik und dem mathematischen Denken zusammenhängen.
Das System kann in seinem jetzigen Zustand bereits in Rehabilitationszentren angewendet werden und könnte sich dort potenziell als sehr nützlich erweisen. Unsere Prototypen sind recht einfach herzustellen, die Technologie könnte also kommerziell verwertet werden, wenn man sie an ein Start-up-Unternehmen überträgt. Mit recht überschaubarem technischen Aufwand könnte man es zu einem Produkt weiterentwickeln. Mit weiterer Finanzierung könnten wir in weniger als zwei Jahren in der Lage sein, ein Produkt auf den Markt zu bringen.
BLINDPAD
Gefördert unter FP7-ICT
ProjektwebsiteProjektvideoCORDIS-Webseite