Mathematische Modelle zur Vorhersage des Verhaltens großer Gruppen

Im Rahmen des Projekts HDSPCONTR entwickelten EU-geförderte Mathematiker eine Reihe von Algorithmen und mathematischen Modellen, mit deren Hilfe das Verhalten sozialer Gruppen vorhergesagt und beeinflusst werden kann.

Schon seit langem wird erforscht, wie das Verhalten sozialer Gruppen vorhergesagt und beeinflusst werden kann, doch bislang konnte dies mit mathematischen Modellen für soziale Systeme und Dynamiken noch nicht erreicht werden. Es scheint praktisch unmöglich, das Verhalten einzelner Menschen präzise vorherzusagen, nicht zuletzt aufgrund der unzähligen physischen, kognitiven und sozialen Interaktionen, die stetig ablaufen.

Dank einer Gruppe von Forschern der Technischen Universität München (TUM) könnte sich dies bald ändern. Auf dem Europäischen Mathematikerkongress im Juli 2016 stellten die Forscher die wichtigsten Ergebnisse des Projekts HDSPCONTR (High-Dimensional Sparse Optimal Control) vor und veröffentlichten in den offiziellen „Proceedings“ des Kongresses. Die Projektforscher erklärten, dass sich Menschen unter bestimmten Umständen, z. B. im Straßenverkehr, in sozialen Netzwerken oder bei Großereignissen, anders als gewöhnlich verhalten. Dies liegt darin begründet, dass sie hier nicht als Einzelperson, sondern als Teil einer Masse auftreten.

Einflussnahme auf das Gruppenverhalten

In der Physik ist es nicht erforderlich, die Eigenschaften jedes einzelnen Teilchens zu kennen, um die Richtung eines Flusses aus zahlreichen Gasmolekülen mit hoher Genauigkeit berechnen zu können – lediglich ein Mittelwert der kinetischen Eigenschaften aller Teilchen muss bekannt sein. „Das Gleiche gilt für die Bewegung von Menschenmassen, Schwärmen von Tieren oder interagierenden Robotern“, sagt Professor Massimo Fornasier, der Forschungsleiter des Projekts. „Analog zur Anziehungskraft zwischen Molekülen in einem Gas können wir auch allgemeine Verhaltensmuster beschreiben, die sich aus zusammenwirkenden sozialen Faktoren zwischen Einzelnen ergeben, und diese in Form mathematischer Gleichungen ausdrücken.“

Mithilfe von Computersimulationen konnten diese Mathematiker belegen, dass sie potenzielle kollektive Verhaltensmuster großer Gruppen aus einzelnen Menschen beschreiben können, die sich in einer gegebenen Situation gegenseitig beeinflussen. „Zudem können wir auch Vorhersagen zum zukünftigen Verhalten treffen“, erläutert Fornasier. „Und sobald wir das Verhalten einer Gruppe miteinander interagierender Einzelner im Voraus berechnen können, ist es nur noch ein kleiner Schritt, sie zu kontrollieren.“

Fornasier und sein Team demonstrierten, wie das Gruppenverhalten mittels ihres Verfahrens auch beeinflusst werden kann, indem sie in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Forschungsrat Italiens und der Universität La Sapienza in Rom einen Versuch durchführten. Sie stellten zwei Gruppen von jeweils 40 Studenten die Aufgabe, einen bestimmten Ort in einem Gebäude zu finden. Eine der beiden Gruppen enthielt jedoch – ohne das Wissen der anderen Versuchsteilnehmer – zwei eingeweihte Personen, die den gesuchten Ort kannten. Indem sie sich lediglich sehr entschieden in eine bestimmte Richtung bewegten, konnten diese beiden Personen die gesamte Gruppe zum Zielpunkt führen.

Insgesamt wurde mit dem Experiment belegt, dass es überraschend einfach möglich ist, Einfluss auf selbstorganisierende Systeme zu nehmen, unter die auch Gruppen von Menschen fallen. Das Team bewies zudem, dass diese Ergebnisse gleichermaßen auf sehr große Gruppen zutreffen, und Fornasier schätzt, dass bereits zwei bis drei Personen pro hundert Menschen ausreichen, um die Gruppe zu kontrollieren.

Anpassbare Modelle

Da sie in einer völlig abstrakten Umgebung formuliert sind, können die mathematischen Modelle leicht an eine große Auswahl sozialer Situationen angepasst werden, z. B. um die Evakuierung einer hohen Anzahl von Personen in Notfällen zu beschleunigen oder einfach um Menschenmassen effizienter zu koordinieren. „Wir können unsere Ergebnisse im gesellschaftlichen Bereich auch für andere interessante Zwecke einsetzen, etwa um das Verhalten von Investoren auf dem Finanzmarkt zu ergründen“, sagt Fornasier.

Die Forscher betonen überdies, dass die Meinungsbildung in Gruppen auch auf Interaktionen zwischen Menschen beruht. Sie zeigten, dass es in ihren Modellen am effektivsten ist, sich auf die radikalsten Vertreter einer bestimmten Meinung zu konzentrieren – sollte man diese überzeugen können, werden auch die übrigen Gruppenmitglieder ihre Ansicht relativ schnell ändern.

Grenzen der prädiktiven Modelle

Irgendwann stoßen jedoch auch die in HDSPCONTR entwickelten Modelle an ihre Grenzen. „Eine wichtige Voraussetzung für die Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit besteht darin, dass die zahllosen möglichen Interaktionen zwischen den Mitgliedern einer großen Gruppe auf einige wenige reduziert werden können“, erläutert Fornasier. „Die Vorhersage funktioniert gut in Gruppen, die bestimmte Verhaltensmuster an den Tag legen.“

Diejenigen, die sich bei der Entwicklung solcher Modelle an die düsteren Zukunftsvisionen aus Science-Fiction-Filmen und dystopischen Romanen erinnert fühlen, möchte Fornasier wie folgt beruhigen: „Eine ausführliche Vorhersage von Ereignissen, wie sie etwa in Isaac Asimovs Foundation-Zyklus vom Mathematiker Hari Seldon durchgeführt oder in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ beschrieben wird, bleibt auch weiterhin Science-Fiction.“

Weitere Informationen:
CORDIS-Projektseite

veröffentlicht: 2016-11-18
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