"In silico" nennen Wissenschaftler die Modellierung, Simulation und
Visualisierung von biologischen und medizinischen Prozessen am Computer.
Das Aufkommen der in-silico-Medizin ist Resultat des Fortschritts der
medizinischen Informatik in den letzten zwanzig Jahren.
"In-silico bezieht sich auf jegliche Anwendung computerbasierter
Technologien - Algorithmen, Systeme sowie Data-Mining oder Analyse",
erläutert Professor Norbert Graf, Direktor der Klinik für Pädiatrische
Onkologie und Hämatologie des Universitätsklinikums des Saarlandes und
Forschungsleiter des ACGT-Projekts ("Advanced clinico-genomic trials on
cancer").
Seit dem Start des großen Rennens um die Kartierung des menschlichen
Genoms spielt die Informatik eine immer größere Rolle in der
medizinischen Wissenschaft. Die sogenannte Bioinformatik - Kombination
aus Informatik und Statistik - berührt nahezu alle Bereiche der modernen
Medizin und Molekularbiologie: Sequenzierung, Genannotation,
Evolutionsbiologie, Mutationsanalyse, Hochdurchsatz-Bildanalyse und noch
viele weitere Gebiete.
Einige der spannendsten neu entstehenden Disziplinen der
Bioinformatik sind Modellierung, Simulation und Visualisierung.
Modellierung bildet die Elemente eines biologischen Systems ab,
Simulation versucht auf realistische Weise zu zeigen, wie sich dieses
System im Laufe der Zeit unter dem Einfluss gegebener Reize entwickelt,
und Visualisierung präsentiert Prognosen in grafischer Form.
Ein nahezu unvorstellbar beeindruckendes Paradigma: Reale
biologische Prozesse werden in einer virtuellen Umgebung genauestens
simuliert. Das Gebiet steckt durchaus noch in den Kinderschuhen, aber
die Wissenschaft konnte schon enorme Fortschritte verzeichnen. Und ganz
vorn an der Spitze steht das EU-finanzierte Projekt ACGT.
ACGT ist auf dem Wege, der Gemeinschaft der Krebsforscher eine
supermoderne IKT-Infrastruktur zu verschaffen, mit deren Hilfe die
angewandte Genomik für die Krebsbehandlung in der Klinik zum Einsatz
kommen kann. Angewandte Genomik bedeutet maßgeschneiderte Behandlung
entsprechend dem individuellen genetischen Profil eines bestimmten
Tumors und Patienten: ACGT bietet eine Reihe von Tools, um genau dieses
Ziel zu erreichen.
Der Oncosimulator: Krebs in silico
Das innovativste und fortschrittlichste ACGT-Support-Tool ist der
Oncosimulator, ein Stück Software zur mathematischen Modellierung,
Simulation und Visualisierung sowie eine experimentelle
in-silico-Plattform.
Die
in-silico-Oncology-Gruppe
entwickelt diese Plattform in Zusammenarbeit mit mehreren
Forschungszentren in Europa und Japan unter der Leitung von
Forschungsprofessor Georgios Stamatakos vom Institut für Kommunikation
und Computersysteme (ICCS) an der Nationalen Technischen Universität
Athen (NTUA).
"Der Oncosimulator ist ein integriertes Softwaresystem, das eine
in-vivo-Reaktion des Tumors auf Therapeutika innerhalb der Umgebung
einer klinischen Studie simuliert", erklärt Prof. Graf. "Er soll die
klinische Entscheidungsfindung für einzelne Patienten unterstützen.
Hauptziel des Systems ist eine optimale Krebsbehandlung."
Diese in-silico-Experimente sollen Ärzte, Biowissenschaftler,
Forscher und Patienten schulen und informieren, indem die
voraussichtlichen Reaktionen eines Tumors auf unterschiedliche
therapeutische Maßnahmen demonstriert werden. Die Technologie ist noch
nicht klinisch einsetzbar, aber das ACGT-Projekt stellt einen
Riesenschritt in diese Richtung dar.
Das ACGT-Projektteam konzentrierte sich auf das Nephroblastom, den
Wilmstumor, einen bei Kindern auftretenden Krebs der Niere, und
insbesondere auf eine von der SIOP (International Society of Paediatric
Oncology) durchgeführte Untersuchung.
Dank dieser Studie konnten die ACGT-Forscher auf anonymisierte reale
Daten vor und nach chemotherapeutischer Behandlung zurückgreifen.
Mithilfe dieser Daten konnte die Software an echte klinische Bedingungen
angepasst und gleichzeitig unter Nutzung realer Resultate validiert
werden.
"Durch den Einsatz echter medizinischer Daten in Bezug auf
Nephroblastom für einen einzigen Patienten in Verbindung mit plausiblen
Werten für die Modellparameter ..., wurde auf Grundlage der verfügbaren
Literatur eine vernünftige Vorhersage der tatsächlichen
Tumorvolumenschrumpfung möglich", erklärt Prof. Graf.
Die Arbeit an der Simulation erforderte einige Tricks aus der Welt
der modernsten mathematischen Medizinwissenschaft, wie etwa
stochastische zellulare Automaten, Simulation diskreter Ereignisse,
Hypermatrizen und diskrete Operatoren.
Prof. Graf erläutert dazu, dass es mithilfe dieser Ansätze gleichsam
möglich sei, genetische Instabilität oder Mutation und Mutagenese zu
untersuchen, sowie die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen dem
Immunsystem und dem Tumor zu betrachten.
Ein detailliertes Bild
Zur Entwicklung der Simulation folgte ACGT dem bewährten
Top-down-Ansatz, wobei klinische Beobachtungen zusammen mit dem Wissen
über das Verhalten des Krebses angewandt werden. Diese Methode nutzt
physiologische und biologische Informationen zum Aufbau eines sehr
detaillierten Bildes der Krebsentwicklung. In einem iterativen Prozess
werden sowohl die Simulation als auch das zugrunde liegende Modell
ständig aktualisiert.
Die Bandbreite der im ACGT-Simulator verwendeten Daten ist
beeindruckend. Das System bezieht Literaturdaten zu Faktoren der
Pharmakokinetik von Arzneimitteln, der Dynamik der Wechselwirkung
zwischen Arzneimitteln und speziellen Tumorarten, ein. Es verfügt
außerdem über strahlenbiologische Parameter für Strahlentherapie und
molekulare Daten. Und es umfasst alle klinischen Daten wie Alter,
Gewicht, Familienanamnese usw. sowie Bilddaten der Computertomografie
(CT), Kernspintomografie (MRT) und aus Ultraschalluntersuchungen sowie
beliebigen Kombinationen dieser Verfahren.
Die molekularbiologischen Daten stammen aus der
Antikörperprofilierung, einer geschätzten Zelltyp-Zusammensetzung des
Tumors und schätzen das Ansprechen des Tumors auf mögliche
Arzneiwirkstoffe ab. Sämtliche Informationen werden mit den Details der
Standard-Therapieprotokolle kombiniert.
Soweit der Stand der Technik, aber mit dem Oncosimulator hofft man im Lauf der Zeit das Erreichte noch zu übertreffen.
"Da offensichtlich mehr und mehr medizinische Datensätze erschlossen
werden, kann man von einer erhöhten Zuverlässigkeit des Modellabgleichs
ausgehen", gibt sich Prof. Graf zuversichtlich. "Die erfolgreiche
Vorführung der ersten kombinierten ACGT-Oncosimulator-Plattform - wenn
auch bis jetzt nur als "test of principle" nutzbar - war ein besonders
ermutigender Schritt in Richtung der klinische Umsetzung des Systems,
wobei es der erste Ansatz dieser Art weltweit war."
Das Team hat durch die Demonstration der SIOP-Daten einen echten
Durchbruch erzielt: Das Modell konnte generell realistische Vorhersagen
treffen. Allerdings muss noch mehr geforscht und getestet werden. Der
Oncosimulator muss einem umfassenden Validierungs-, Anpassungs- und
Optimierungsprozess unterzogen werden, bevor er als
Entscheidungshilfe-Tool in die klinische Routine eingehen kann.
Überdies müssen die Forscher molekulare Extraktionsverfahren der
ausschlaggebenden histologischen oder die Zellen betreffenden
Zusammensetzung des Tumors testen und integrieren. Diese Arbeit ist
derzeit im Gange, aber bahnbrechend an ACGT war der solide Beweis des
zugrunde liegenden Prinzips.
Das ACGT-Projekt erhielt Mittel aus dem Themenbereich "Technologien
für die Informationsgesellschaft" des Sechsten EU-Rahmenprogramms (RP6)
für Forschung. Mehr über die Arbeit des ACGT-Projekts erfahren Sie in
der Projekt-Erfolgsstory
"Angewandte Genomik auf dem Weg vom Labor in die Klinik"