Weltweit gibt es
etwa 55.000 Museen. Einige sind klein, schrullig und beschäftigen sich
mit ausgefallenen Themen, die nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen
von Interesse sind. Andere wiederum sind wahre Archive des kulturellen
Erbes - von denen viele zu den wichtigsten kulturellen Institutionen in
der Welt gezählt werden - hierzu gehört u. a. auch das Erbe der
industriellen Revolution oder der jüngsten Wissenschaft, Technologie und
Weltraumforschung. Im heutigen modernen Zeitalter stehen aber alle vor
einer ähnlichen Herausforderung: Wie lassen sich Besucher anziehen,
interessieren und ihnen ein Erlebnis bieten, dass sie nirgendwo anders
finden können.
"Früher waren Museen die Hüter der Vergangenheit und potenzielle
Anlaufpunkte für Touristen. Heute jedoch sind Museen Unternehmen mit den
gleichen Herausforderungen, denen sich auch KMU stellen müssen: Umsatz,
Rentabilität und geeignete Ressourcen. Heute müssen Museen attraktiv
bleiben und Besucher nicht nur während der Urlaubsmonate, sondern das
ganze Jahr über anziehen. Sie müssen ihren Wert und ihre Bedeutung in
der Gegenwart demonstrieren", erklärt Martine Julien, Leiterin der
FuE-Abteilung im Bereich Simulation und virtuelle Realität bei DIGINEXT
in Frankreich. Ihr zufolge, treffen die Leute heutzutage in ihrem Umfeld
überall auf dynamische, digitale, multimediale und interaktive
Tätigkeiten - sowohl zu Hause als auch draußen - daher müssen Museen und
kulturelle Einrichtungen ihr Angebot neu ausrichten und sich selbst
digitalisieren. Aufgrund der hohen Erhaltungskosten kann der Fortbestand
in vielen Museen nur durch eine Steigerung der Einnahmen gesichert
werden.
Eine Museumswebsite, digitale Audioführungen oder die Installation
interaktiver Aufsteller für Ausstellungen sind zwar hilfreich, gehen
aber nicht weit genug beim Angebot einer immersiven, hochgradig
interaktiven und vor allem individuell abgestimmten Erfahrung, nach der
Museumsbesucher, und insbesondere jüngere Leute, verstärkt suchen.
Bei einer Lösung, die jetzt in Versuchen im Museum Cité de l'Espace
in Toulouse, Frankreich, und im Akropolismuseum in Athen, Griechenland,
erprobt wird, geht es darum, genau diese individuelle, einzigartige und
immersive Erfahrung anzubieten. Dadurch dass jeder Besucher auf einem
Tablet-Computer seiner eigenen Erzählung folgt, lassen sich in einer
individuellen Geschichte die Museumsartefakte und Informationen sowie
Ausstellungen und externe Ressourcen, die die Interessen und Präferenzen
der einzelnen Personen berücksichtigen, miteinander verknüpfen.
"Wir haben beschlossen, eine Lösung zu erforschen und zu entwickeln,
die sich auf die Besucher konzentriert, wobei mit Hilfe digitaler
Instrumente für jeden Besucher ein einzigartiges Erlebnis erzielt wird.
Selbst wenn ein Besucher mehrere Male in dasselbe Museum geht, kann er
bei jedem Besuch etwas Neues erleben. Er kann dann Verwandten und
Freunden von seinen Erlebnissen erzählen, da keiner von ihnen das
gleiche erleben wird", sagt Julien, die die Entwicklung der Lösung als
Koordinatorin des Projekts "Cultural-heritage experiences through
socio-personal interactions and storytelling" (CHESS) überwacht, einer
dreijährigen Initiative, die von der Europäischen Kommission mit
Finanzmitteln in Höhe von über 2,8 Mio. EUR unterstützt wird.
Anders als ein menschlicher Museumsführer, der normalerweise
verschiedenen Besuchergruppen einen Standardtext vorträgt, kann beim
CHESS-Erlebnis jeder Besucher individuelle Hintergrundinformationen
hören, die auf die Ausstellungstücke zugeschnitten sind, seinen
Interessen und seiner Stimmung entsprechen, mit vielen oder wenigen
Einzelheiten, und auf sein eigenes Verhalten und Aktionen in der
Geschichte ansprechen. Je nach den vom Museum entworfenen Geschichten
und Figuren hört der Besucher eine mehr oder weniger innovative
Geschichte, angefangen bei einer eher traditionellen Geschichte, die mit
Multimedia-Inhalten, 3D und "erweiterte Realität" aufgepeppt wird bis
hin zu einer Geschichte, bei der die Gegenstände sprechen und den
Benutzer einladen, mit ihnen zu interagieren.
"Einer der innovativsten Aspekte unseres Konzepts ist, dass wir
davon ausgehen, dass die Leute, die die Museumsgegenstände sowie das
Profil der Museumsbesucher am besten kennen, die Mitarbeiter des Museums
selbst sind. Anstatt die Erstellung digitaler Anwendungen an andere
Unternehmen zu vergeben, sollte das Museumsteam in der Lage sein,
Geschichten und digitale Anwendungen selbst zu erarbeiten. Die
vorgeschlagene Lösung ist daher in erster Linie besucherorientiert und
erst in zweiter Linie museumsorientiert", sagt die CHESS-Koordinatorin.
Besucherorientiert, dann museumsorientiert
Hierfür entwickelte das CHESS-Team mehrere innovative Hilfsmittel und Anwendungen.
Zuerst wurden mit Hilfe der CHESS-Besucherumfrage (CHESS visitor
survey, CVS) die Charakteristika und Interessen der Besucher ermittelt.
Mit dem Werkzeug können Museen Umfragen mit Single- und
Multiple-Choice-Fragen in einer Vielzahl von Präsentationsformaten
erstellen und die Antworten mit Figuren verknüpfen, wie z. B. einer
Charakterdarstellung des Besucherprofils. Die Geschichte wird dann
zuerst an die Figur und dann an das Verhalten des Besuchers angepasst.
Das CHESS-Autorenwerkzeug (CHESS authoring tool, CAT) soll es
IT-Laien wie Museumskuratoren und -mitarbeitern ermöglichen, mehrspurige
dynamische Geschichten mit integrierten Multimediainhalten zu
entwickeln. Die Inhalte selbst werden von einem
"Bestandsverwaltungs-Werkzeug" gepflegt, das einfachen Zugang zu den
verschiedenen Medienelementen und ihre Anpassung und Wiederverwendung in
verschiedenen Geschichten ermöglicht.
Letztendlich spult die "Geschichtenerzählmaschine" die Geschichte
entsprechend der im CHESS-Autorenwerkzeug eingestellten Pfade ab und
fügt individuelle und angepasste Aspekte hinzu, sodass das
Besucherprofil im Laufe der Geschichte entsprechend den individuellen
Auswahlmöglichkeiten aktualisiert wird.
"Am Ende des Besuchs stehen für den Besucher Souvenirs aus seiner
eigenen Geschichte auf der Museumswebsite bereit, wo er seine
Erinnerungen an den Museumsbesuch noch einmal auffrischen und mit
Verwandten und Freunden teilen kann. Für junge Leute können Geschichten
spezielle Erinnerungen darstellen, die sie anderen mitteilen möchten, z.
B. in einem Tagebuch mit ihrem Namen, den Ergebnissen eines Spiels, das
sie gespielt haben, oder den Fotos, die sie aufgenommen haben", sagt
Julien.
Das individuelle Konzept des Geschichtenerzählens wurde von den
Besuchern der beiden Versuchsstandorte sehr geschätzt. Im Museum Cité de
l'Espace können die Besucher Objekte entdecken, wie sie sie noch nie
zuvor gesehen haben. Hierzu gehören beispielsweise Informationen über
die Zusammenarbeit und das Leben in der Raumstation MIR, die
Innenausstattung der Rakete Ariane, die mit Hilfe von erweiterter
Realität ausgestellt wird, sowie Spiele über das Sonnensystem und andere
interaktive Funktionen.
Im Akropolismuseum können die Besucher das Museum in Form von
Tiergeschichten erkunden, wie z. B. anhand von Repräsentationen von
Pferden, Schlangen und Eulen, die besonders im Rundgang der archaischen
Periode zu sehen sind, und ihrer Verbindung mit den Olympischen Spielen,
Krieg und der griechischen Mythologie.
In Anbetracht des Erfolgs der Versuche und des positiven Feedbacks
der Besucher aller Altersgruppen und der Museumsdirektoren selbst will
das CHESS-Team, sein System in weiteren Museen in ganz Europa anwenden,
wobei es sich zunächst auf technische Museen mit Schwerpunkt auf
Bereichen wie Wissenschaft und Industrie konzentrieren wird.
"Je älter die ausgestellten Objekte sind, desto schwieriger ist die
Einführung des Geschichtenerzählens, da die archäologische Geschichte
lang, kompliziert und häufig noch Gegenstand von Forschung auf höchstem
Niveau ist", bemerkt Julien.
Darüber hinaus planen die beiden industriellen CHESS-Partner eine
Kommerzialisierung der im Projekt entwickelten Technologie. DIGINEXT
strebt die Entwicklung einer kommerziellen Version des CAT-Werkzeugs als
Szenario-Editor und mobiles System für Veröffentlichungen an, das mit
einem lizenzbasierten Geschäftsmodell einschließlich Support, Schulungen
und Dienstleistungen vertrieben wird. REAL FUSIO plant inzwischen,
seine patentierte Algorithmen für die Optimierung von 3D-Displays zu
vertreiben, während sein "Asset Manager" in einem lizenzbasierten System
kommerzialisiert werden könnte.
"Das CHESS-Erlebnis ist als individuelles Erlebnis ausgelegt. Im
nächsten Schritt könnte den Besuchern eine gemeinsame Version mit
verknüpften digitalen Geräten angeboten werden, die Familien und Gruppen
ein gemeinsames Erlebnis ermöglichen", sagt Julien. "Dieser
Herausforderung müssen sich DIGINEXT und seine Partner im RP7-Projekt
MAGELLAN ("Multimodal authoring and gaming environment for
location-based collaborative adventures") stellen, bei dem es um
multimodale Autoren- und Spielumgebungen für standortgebundene
kollaborative Abenteuer geht.
CHESS erhielt Forschungsmittel aus dem Siebten Rahmenprogramm der Europäischen Union (RP7).
Link zum Projekt auf CORDIS:
- RP7 auf CORDIS
- Datenblatt des Projekts CHESS auf CORDIS
Link zur Projektwebsite:
- Website: des Projekts "Cultural heritage experiences through socio-personal interactions and storytelling"
Weitere Links:
- Website der Europäischen Kommission zur Digitalen Agenda