Bereits seit langer Zeit stehen Informationstechnologien im Zusammenhang
mit dem menschlichen Gehirn: die alte einfache Erklärung eines
Computers war, dass dieser eine Art elektronisches Gehirn sei. Aber
Computer sind sehr schnell so allgegenwärtig geworden, dass heutzutage
Anfänger das Gehirn oftmals als eine Art biologischen Computer
beschreiben.
In ihrem Kommentar zur diesjährigen Ankündigung der 150 Mio. EUR für
die Finanzierung von IKT-Forschungsprojekten im Zusammenhang mit dem
Gehirn sagte Neelie Kroes, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission
und zuständig für die Digitale Agenda für Europa: "Trotz großer
Fortschritte in den letzten Jahrzehnten bleibt noch viel zu entdecken:
von Computern, die wie unser Gehirn denken - etwa Computernetzwerke, die
die Struktur des Gehirns replizieren, um "Big Data" besser zu
bewältigen - bis hin zur Erkennung und Heilung von Störungen des
Gehirns, an denen bis zu einem Drittel der Europäer jedes Jahr
erkranken, von Alzheimer und Autismus bis hin zu Schizophrenie."
Die Gehirnbox
Das menschliche Gehirn zu verstehen, ist daher eine der größten
Herausforderungen der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts. Ambitionierte
neue Projekte in der EU wie das
Programm Neue und zukünftige Technologie (Future and Emerging Technology, FET ,
das 'Human Brain Projekt '
(HBP), und in den USA das BRAIN-Projekt, versuchen nun, dieser
Herausforderung gerecht zu werden, mit der Hoffnung, tiefe Einblicke in
das zu gewinnen, was uns zu Menschen macht, neue Therapien für
Erkrankungen des Gehirns zu entwickeln und revolutionäre neue
Rechnertechnologien aufzubauen.
Das erste Ziel des HBP ist es, ein integriertes System IKT-basierter
Forschungsplattformen aufzubauen, wodurch Neurowissenschaftler,
Mediziner und Technologieentwickler Zugang zu innovativen Tools und
Diensten erhalten, die ihre Forschungsarbeiten drastisch beschleunigen
könnten. Das Projekt wird über einen Zeitraum von 10 Jahren Finanzmittel
in Höhe von rund 1 Mrd. EUR erhalten und eng mit
Präsident Obamas neuer Initiative zum Thema "Brain Activity Mapping" (BAM), im Wert von 100 Millionen Dollar im ersten Jahr allein, zusammenarbeiten.
Das zweite Ziel des HBP ist es daher, eine globale Zusammenarbeit zu
initiieren und zu leiten, bei der mit Hilfe dieser Plattformen
grundsätzliche Fragen der Neurowissenschaften, Medizin und des Computing
angegangen werden. Im Endergebnis sollte dabei nicht nur ein neues
Verständnis des Gehirns, sondern auch transformative neue IKT
herauskommen. Zum Beispiel verwaltet das Gehirn Milliarden von
Recheneinheiten, die über Kilometer von Fasern und Billionen von
Synapsen verbunden sind, während es nicht mehr Strom als eine Glühbirne
verbraucht. Dieses zu verstehen, könnte unsere Rechenleistung
transformieren und zu einer neuen IKT-Infrastruktur beitragen.
Gehirnboxen: Menschen helfen Computern
Wir alle wissen, dass das moderne Leben uns eine verwirrende Palette
von Informationen präsentiert, vom Supermarkt bis zur Online-Werbung,
und in belebten Straßen oder Geschäften oft nach schnellen
Entscheidungen verlangt. Überraschenderweise haben diese
Herausforderungen Ähnlichkeiten in einer Reihe von Wissenschaften wie
Astronomie, Neurowissenschaften, Archäologie, Geschichte und Wirtschaft.
In diesen Bereichen müssen Experten aus sehr großen und komplexen Datenmengen einen Sinn herausfinden. Das Projekt
CEEDS
arbeitet an neuen Werkzeugen für die "Mensch-Computer-Interaktion"
(human-computer interaction, HCI), die sowohl der täglichen
Entscheidungsfindung als auch der wissenschaftlichen Analyse von
Informationen dienen sollen. Der neue Ansatz, den das Team verfolgt,
nutzt Systeme der "synthetischen Realität" (SR), um Menschen bei der
bewussten Durchsuchung großer Datenmengen zu helfen, während auch die
Kraft und das Potenzial des Unterbewusstseins genutzt werden.
Wir kennen nur einen kleinen Teil der Informationen, die wir von
unseren Sinnen erhalten, aber unser Gehirn verarbeitet auch den Rest -
und wir sind sehr gut im Erkennen unbewusster Muster. CEEDS will daher
nach Anzeichen für Entdeckung oder Überraschung in diesen unbewussten
Prozessen Ausschau halten, wobei auf dem Körper tragbare Technologien
verwendet werden, die die Reaktionen der Probanden auf Visualisierungen
großer Datenmengen in SR-Umgebungen messen. Das System wird dann die
Benutzer zu Bereichen von potenziellem Interesse in den Visualisierungen
führen und ihre Entdeckung von Mustern und Bedeutung in den Datensätzen
leiten.
Die Freisetzung der Kraft des Unterbewusstseins wird CEEDS Benutzern
helfen, Muster oder Signale, die in großen Datenmengen versteckt sind,
herauszufinden. Diese neue "konfluente Technologie" - bei der der
Computer und die Benutzer Bestandteile eines Systems sind - könnte sogar
mehrere Benutzer miteinander verknüpfen und ein kollektives
Entdeckungssystem schaffen.
CEEDS hilft Computern und Menschen bei der Zusammenarbeit, aber das Projekt
BrainScaleS
hilft Computern dabei, mehr wie Menschen zu denken. Unsere Gehirne
arbeiten auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig: von einzelnen Neuronen
bis hin zu großen Bereichen, die für bestimmte Funktionen zuständig
sind, wie Sehen oder Riechen, und von Millisekunden (körperliche
Reaktionen) bis hin zu Stunden oder Tagen (Lernen). Das Projektteam wird
mit Simulationen auf ultraschnellen Supercomputern "eine künstliche
Darstellung kortikalähnlicher kognitiver Fähigkeiten" erarbeiten und
entwickelt eine "Nicht-von-Neumann-Hardware-Architektur".
Traditionelle Computer basieren auf der "von Neumann"-Architektur,
die wir aus dem Umgang mit unseren PCs kennen, bei der getrennte
Speicher und Recheneinheiten eingesetzt werden. Aber mit Strukturen, die
die mehrskalige Funktion des menschlichen Gehirns nachahmen, hat das
Team einen Nicht-von-Neumann-Rechner konzipiert. Die Arbeit des
BRAINSCALES-Projekts, die auch Anwendungen außerhalb der
Gehirnwissenschaften hat, hat zur Vorbereitung des FET
Human Brain Projekts beigetragen.
Gleichermaßen zielt das Projekt
REALNET
auf die Entwicklung des ersten realistischen Echtzeitmodells des
"Kleinhirns" - dem Teil des Gehirns, der eine wichtige Rolle bei der
motorischen Steuerung spielt und an kognitiven Funktionen wie
Aufmerksamkeit und Sprache beteiligt ist. Das Team wird spezifische
Chips und bildgebende Verfahren entwickeln, um neurophysiologische
Aufnahmen von Neuronen im Kleinhirn zu machen.
Das Endergebnis wird ein realistisches neuronales Netz sein, das auf
anatomischen und physiologischen Daten gründet, die sowohl mit
simulierten als auch realen Robotern verbunden sind, um die
Funktionsweise zu beurteilen. REALNET will eine radikal neue Sicht über
die Rechenvorgängen in zentralen Hirnschaltkreisen liefern - und damit
die Basis für neue technologische Anwendungen in Sensorik,
Motorsteuerung und kognitiven Systemen legen.
Bewusstseinskontrolle: Computer helfen Menschen
IKT-Hirnforschung befasst sich nicht nur mit der Funktionsweise des
Gehirns und kopiert diese, sondern arbeitet auch an einer anderen
Herausforderung, einem alten Traum der Menschheit: die Steuerung der
physischen Welt allein durch den Verstand - Objekte durch Gedanken
bewegen.
Einer der größten Beiträge der Hirnforschung wäre es, Menschen zu
helfen, die aufgrund von Verkehrsunfällen an den Rollstuhl gefesselt
sind oder Menschen mit Ganzkörper-Lähmung oder dem Locked-in-Syndrom.
Millionen Europäer haben irgendeine Form motorischer Behinderung, die
ihre Fähigkeit sich zu bewegen, interagieren oder mit anderen zu
kommunizieren beeinträchtigt.
Das Projekt
BrainAble ist
eine Drei-Jahres-Initiative, die mit Finanzmitteln in Höhe von 2,3
Millionen EUR unterstützt wird, um fortschrittliche
"Gehirn-Computer-Schnittstellen" (brain-computer interface, BCI),
Umgebungsintelligenz, virtuelle Realität und andere Technologien zu
unterstützen, die, wenn sie in Kombination benutzt werden, beispiellose
Autonomie für Menschen mit Behinderungen versprechen.
"Unser Ziel ist es, Menschen mit motorischen Behinderungen so viel
Autonomie zu geben, wie die Technologie es derzeit erlaubt und im
Gegenzug ihre Lebensqualität erheblich zu verbessern", sagt Felip
Miralles am Digital Technology Centre in Barcelona, einem spanischen
IKT-Forschungszentraum, welches das Projekt koordiniert.
Durch die Kombination von BCI und anderen unterstützenden
Technologien können Anwender einen Roboter fernsteuern und diesen rund
um das Haus manövrieren. Weiterhin haben die Forscher die
Kommunikationsfähigkeit dieser Menschen verbessert. Die Forscher von
BRAINABLE überwinden nun die langsamen Reaktionsgeschwindigkeiten
bisheriger Systeme durch die Einbettung von Intelligenz in ihre
Plattform, sodass das System den Kontext und die Gewohnheiten des
Benutzers versteht und proaktiv handeln kann. Die Plattform ermöglicht
sogar einen vereinfachten Zugang zu Social-Networking-Plattformen wie
Twitter und Facebook, die sich zu immer wichtigeren Werkzeugen
entwickeln, um behinderten Menschen aus der sozialen Isolation zu
helfen.
Durch die intensive Anwendung von BCI-Technologie könnte das Projekt
MINDWALKER
Tausenden von Menschen mit Rückenmarkverletzung in Europa helfen. Das
gedankengesteuerte Roboter-Exoskelett des Projekts sollte diesen
Patienten helfen, wieder zu gehen. Es könnte auch bei der Rehabilitation
von Schlaganfallopfern oder Astronauten eingesetzt werden, die ihre
Muskeln nach längerem Weltraumaufenthalt wieder aufbauen müssen.
Die meisten BCI-Systeme sind entweder invasiv, wobei Elektroden
direkt ins Hirngewebe eingepflanzt werden, oder der Benutzer muss eine
"nasse" Mütze auf dem Kopf tragen, wobei spezielle Gels verwendet
werden, um den elektrischen Widerstand zu verringern. MINDWALTER setzt
eine "trockene" Technologie mit Elektronik ein, um die Gehirnsignale zu
verstärken und zu optimieren.
"Der Proband kann sich die trockene EEG-Haube selbst in weniger als
einer Minute, wie eine Badekappe, über den Kopf ziehen", erklärt Michel
Ilzkovitz, Projektkoordinator bei Space Applications Services in
Belgien.
Darüber hinaus hat das Projektteam eine neue Laufstrategie
entwickelt, die sich von den meisten früheren Exoskeletten
unterscheidet. Diese sind so gestaltet, dass sie beim Stehen auf der
Stelle trippeln müssen, um im Gleichgewicht zu sein. MIDWALKER setzt
einen kontrollierten Gleichgewichtsverlust in Laufrichtung ein, der die
Art und Weise, wie Menschen tatsächlich gehen, repliziert.
"Dieser Ansatz wird "limit-cycle walking" genannt und wurde unter
Verwendung von "Model-predictive Control" implementiert, um das
Verhalten des Benutzers und des Exoskeletts vorherzusagen und das
Exoskelett während des Gehens zu steuern", so Ilzkovitz. Höhere
Effizienz bedeutet, dass das Exoskelett eine größere Reichweite und
leichtere Akkus hat.
Körperliche Behinderungen schränken nicht nur die Beweglichkeit ein,
sondern können auch zu sozialer Isolation führen, wodurch der Mensch
nicht in der Lage ist, die moderne vernetzte Welt zu nutzen. Das Projekt
ASTERICS hat eine Plattform
entwickelt, die die Kommunikation für Menschen mit motorischen
Behinderungen in ihren oberen Gliedmaßen durch eine Kombination von BCI
und Computer Vision mit Grundantrieb, um einen Computer zu steuern,
verbessert.
Zum Projektende im Dezember 2012 hatte das Projekt ein Produkt
entwickelt, mit dem der Zugang zu verschiedenen Geräten wie PCs,
Mobiltelefonen und Smart-Home-Geräten - möglich ist. Dabei sind alle
Funktionalitäten in einer Plattform integriert, die an jeden Benutzer
angepasst werden kann integriert. Es ist als Open-Source-Software und
als vorkonfiguriertes Gerät, das über den Handel bezogen werden kann,
erhältlich.
Diese Arten von Prothesen könnten das Leben tausender Menschen zu verbessern. Im
zweiten Teil dieses Artikels
werden wir auf einige der anderen medizinischen Anwendungen des Gehirns
im Zusammenhang mit der von der Europäischen Union finanzierten
IKT-Forschung eingehen.
Die in diesem Artikel vorgestellten Projekte wurden vom Programm zur
Unterstützung der IKT-Politik des Programms für Wettbewerbsfähigkeit
und Innovation (CIP) oder dem Siebten Rahmenprogramm (RP7) für Forschung
unterstützt.
Link zu einem Projekt auf CORDIS:
-
RP7 auf CORDIS-
CEEDS Projektdatenblatt auf CORDIS-
BRAINSCALES Projektdatenblatt auf CORDIS-
REALNET Projektdatenblatt auf CORDIS-
BRAINABLE Projektdatenblatt auf CORDIS-
Mindwalker Projektdatenblatt auf CORDIS-
ASTERICS Projektdatenblatt auf CORDIS
Link zur Projekt-Website:
-
Website des Human Brain Project-
Website des Projekts 'Collective experience of empathic data systems'-
Website des Projekts 'Brain-inspired multiscale computation in neuromorphic hybrid systems'-
Website des Projekts 'Realistic real-time networks: computation dynamics in the cerebellum'-
Website
des Projekts 'Autonomy and social inclusion through mixed reality
"brain-computer interfaces": Connecting the disabled to their physical
and social world'-
Website des Projekts 'Mind controlled orthosis and VR training environment for walk empowering'-
Website des Projekts 'Assistive technology rapid integration and construction set'
Links zu verwandten Nachrichten und Artikeln:
-
Commissioner Kroes' blog post on the European Month of the Brain: 'the EU and US putting our grey matter together'-
EK Pressemitteilung: 150 Mio. EUR für die Hirnforschung zu Beginn des "European Month of the Brain"-
Q&A Memo der EK: Questions and answers on 'European Month of the Brain'-
Website der EK zum 'Europäischen Monat des Gehirns', Mai 2013-
Veranstaltungen zum 'Europäischen Monat des Gehirns', Mai 2013-
"Verbesserte Gehirn-Computer-Schnittstelle verspricht neue Ebene der Selbstständigkeit für Behinderte"-
"Gedankengesteuertes Exoskelett, mit dem behinderte Menschen wieder gehen lernen"
Weitere Links:
-
Website der Europäischen Kommission zur Digitalen Agenda